Altersarmut: Immer mehr Menschen in Gießen "abgehängt" - Gefährliche Folgen befürchtet

Der Andrang auf Tafeln nimmt zu: Dieser Trend ist zwar in Gießen nicht zu erkennen. Doch immer mehr Menschen seien »abgehängt«, sagt Diakonie-Chef Holger Claes.
Gießen - Die Zahl der Tafel-Kunden steigt dramatisch, vor allem Ältere sind immer häufiger auf die Lebensmittelabgabe angewiesen: Mit dieser Nachricht hat der Bundesverband der Verteilorganisationen jüngst Alarm geschlagen. Bei der Gießener Tafel gibt es zwar kein deutliches Plus, sagt Holger Claes, Leiter des Diakonischen Werks Gießen. Besorgniserregend sei die Entwicklung aber auch hier. Seit Jahren beobachte er zunehmende Altersarmut und rechne mit einem »neuen Generationenkonflikt«. Eine reguläre Förderung durch Staat, Stadt oder Kreis wünscht sich Claes trotzdem nicht.
Die stabilen Gießener Zahlen flossen in die Statistik des Vereins Tafel Deutschland ein. Bundesweit ist innerhalb eines Jahres die Anzahl der Menschen, die die Angebote nutzen, um zehn Prozent auf 1,65 Millionen gestiegen. Sogar 20 Prozent betrage der Anstieg bei Senioren. Niedrige Renten seien nach Langzeitarbeitslosigkeit der zweithäufigste Grund, eine Tafel aufzusuchen. »Altersarmut wird uns in den kommenden Jahren mit großer Wucht überrollen«, warnt der Vorsitzende des Vereins Tafel Deutschland, Jochen Brühl. Völlig inakzeptabel sei auch der Anstieg bei Kindern und Jugendlichen auf mittlerweile 30 Prozent der Tafel-Nutzer.
Gießen: »Die Altersarmut-Welle rollt längst« - Droht neuer Generationenkonflikt?
»Die Altersarmut-Welle rollt längst«, meint Claes dazu. Warum in Gießen der Andrang derzeit nicht größer wird, kann er nicht erschöpfend erklären. Möglicherweise nähmen in anderen Regionen soziale Probleme zu, die es hier schon immer gab. Eine Steigerung der Kundenzahlen sei gar nicht möglich; sie wäre den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht zuzumuten. »Wir sind seit Jahren bei 100 Prozent.«
Manche potenzielle Bezieher wandten sich womöglich nicht an die Tafel, weil sie von deren hoher Auslastung wüssten. Einige versorgten sich wohl über die Foodsharing-Gruppe, mit der die Tafel in Gießen zusammenarbeitet. »Wenn wir mehr Werbung machen würden, müssten wir vielleicht wieder eine Warteliste führen.« Die hat das Diakonische Werk vor einigen Jahren abgebaut, indem sie Alleinstehenden nur noch alle zwei Wochen einen Abholtermin gibt.
Keine Warteschlangen, respektvolles Miteinander und eine ruhige Atmosphäre waren dem heute 62-Jährigen, der die Gießener Tafel 2005 federführend ins Laufen brachte, von Anfang an wichtig. »Wir wollen, dass die Leute unsere Tätigkeit nicht als Almosen erleben.« Dafür sorgten die 300 ehrenamtlichen Helfer »mit viel Organisation und Herzblut, das finde ich immer wieder faszinierend«. Dieser Geist werde um so wichtiger, als zunehmend Menschen »abgehängt« würden. »Das macht mir Sorge.«
Längst sei absehbar, dass die Rente bei vielen Menschen nicht reichen werde, die sich derzeit noch im mittleren Alter befinden. Und schon jetzt leben in 20 Prozent der Haushalte, die bei der Gießener Tafel Lebensmittel beziehen, Menschen über 65 Jahre. »Es gibt rührende Situationen, die auch wehtun«, erzählt Claes etwa von einem Senior, der die Mitarbeiterin hinter dem Tresen schüchtern fragte: »Meinen Sie, Sie haben nächste Woche einen Blumenstrauß für mich? Wir haben Hochzeitstag.«
Gießen: Jetzt beginnt die Spendensaison
In einem Punkt geht es der Gießener Tafel ähnlich wie den anderen 940 in Deutschland: Sie sucht ständig Ehrenamtliche. Sie müssen nicht unbedingt Supermärkte anfahren oder Obst sortieren. Einen Engpass gibt es aktuell im Büro, »dafür bräuchten wir dringend noch zwei, drei Leute«, sagt Claes. Die Freiwilligen erwarte »eine tolle Gemeinschaft, die an einem Strang zieht«.
In 14 Jahren hat Claes gelernt, dass die Tafel-Finanzen immer erst ab Oktober ins Plus rutschen - wenn die Vorweihnachts-Spenden fließen. »Das muss man aushalten.« Die Forderung des Bundesverbands nach staatlicher finanzieller Unterstützung sieht er dennoch skeptisch. »Wenn die öffentliche Hand Geld gibt, will sie auch mitbestimmen. Aber die Tafel lebt davon, dass sie unheimlich flexibel ist.« Verwendungsnachweise müssten natürlich sein, nicht nur bei den Projekten, die Stadt oder Kreis punktuell unterstützen, etwa die Anschaffung von Fahrzeugen.
Tafel-Arbeit wird noch wichtiger werden, sagt der 62-Jährige, der sich seit jeher wünscht, sie würde stattdessen überflüssig. Der sozialpolitischen Kritik an der Arbeit hat sich der evangelische Wohlfahrtsverband immer gestellt. Das Angebot sei ein »zweischneidiges Schwert«, meint der Gießener Diakonie-Chef. »Mir wäre es lieber, dass die Leute mit ihrem Geld auskommen können.« Was dafür nötig wäre? Claes überlegt. »Generationen von Politikern hatten keine Antwort«, sagt er schließlich, »und ich habe auch keine.«