1. Gießener Allgemeine
  2. Gießen

Als Menschheit aufeinander angewiesen

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Wir müssen uns unabhängig machen…«. Diesen Satz höre ich oft in den letzten Wochen. Und je öfter ich ihn höre, umso schwieriger finde ich ihn.

Klar, es kann nicht gut und nicht richtig sein, Diktatoren dadurch zu unterstützen, dass wir ihnen Finanzmittel in unvorstellbaren Dimensionen für einen Krieg zukommen lassen. Und ja, es kann nicht gut und nicht richtig sein, sich in Abhängigkeiten zu begeben, die uns die Freiheit nehmen, für unsere Werte einzustehen und diese zu leben. Aber ich glaube, dass der Wunsch nach Unabhängigkeit auch eine negative Seite hat. Denn die Angst vor der Abhängigkeit kann auch den Blick auf gemeinsame Ziele und gemeinsame Herausforderungen verstellen.

Mir kommt seit einigen Tagen beim Stichwort Unabhängigkeit ein Bild in den Kopf, das Paulus benutzt hat. Er schreibt: »Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder auch der Kopf zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Denn wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.«

Ich verstehe dieses Bild von Paulus in der aktuellen Situation so: Wir alle sind als Menschheit aufeinander angewiesen. Und die Herausforderung ist nicht, dass sich alle unabhängig voneinander machen, sondern dass wir solidarisch füreinander einstehen. Diese Perspektive ist mir wichtig. Es geht darum, so miteinander umzugehen, dass möglichst niemand Schaden leidet und kein Mensch andere schädigt.

Wie viele andere leide ich an der aktuellen Erfahrung, dass dieses solidarische Füreinander-Einstehen auch die Androhung oder den begrenzten und legitimierten Einsatz von Gewalt braucht. Und trotzdem: auch in diesen schweren Zeiten will ich weiter dabei bleiben, jeden Menschen als Glied am selben Leib zu sehen. Selbst dann, wenn dieser andere Mensch Wladimir Putin heißt.

Axel Zeiler-Held ist Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Großen-Linden

Auch interessant

Kommentare