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Aktionstag in Gießen: »Genusserlebnis« für Radfahrer, »kiloweise Beschwerden« von Autofahrern

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Von: Burkhard Möller

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Die andere Seite des Verkehrsaktionstages: Auf den beiden äußeren Spuren des Anlagenrings bildeten sich am Samstag lange Staus. © Marc Schäfer

Die einen hatten stundenlang freie Fahrt, andere schmorten im Stau auf dem Anlagenring: Die Reaktionen auf den Verkehrsaktionstag in Gießen fallen unterschiedlich aus. Die Stadt zieht eine Lehre.

Gießen – »Fußgänger!« Der Ruf des Ordnungspolizisten, der am Samstagmittag in der Kreuzungsmitte am Berliner Platz steht und seinen Arm in die Luft streckt, ist unüberhorbar. So kommt Bewegung in den Pulk Fußgänger, der auf der Rathausseite wartet, um den Anlagenring zu überqueren. Nicht überall läuft es am Samstag beim Verkehrsaktionstag so glatt. »Wir haben auch noch Rechte«, raunzt eine Fußgängerin an der Kreuzung Westanlage/Reichensand einige Radfahrer an, die in den Überweg hineingerollt sind, weil sie irrtümlich glauben, sie seien an der Reihe.

Die Veranstalter des Aktionstags hatten solche Szenen vermeiden wollen und die Radfahrer, die am Samstag für einige Stunden freie Fahrt auf den beiden inneren Spuren des Anlagenrings haben, auf Flugblättern zu Rücksichtnahme gegenüber den Fußgängern aufgefordert. »Wenn mehr Platz da ist für Fußgänger und Radfahrer, sollte es derartige Konflikte eigentlich nicht geben«, sagt Mitorganisator Jörg Bergstedt am Montag.

Im Großen und Ganzen habe es aber geklappt mit der Rücksichtnahme. Und auch ansonsten zieht Bergstedt eine positive Bilanz. »Die Aufenthaltsqualität rund um die Innenstadt und in den angrenzenden Straßen ist am Samstag schlagartig angestiegen.« Der Tag habe angedeutet, »wie viel attraktiver die Innenstadt werden würde, wenn die Autos verschwinden und die Menschen barrierefrei zu Fuß, per Fahrrad und mit dem leistungsfähigsten aller ÖPNV-Mittel, der Straßenbahn, in die Innenstadt kämen.

Handel erhält viele Beschwerden für Verkehrsaktionstag in Gießen

Viele Autofahrer, die von der Verkehrsführung augenscheinlich überrascht sind und auf den Zufahrtsstraßen und dem halbierten Anlagenring ab dem Vormittag im Stau stehen oder innerhalb des Anlagenrings umherirren, sehen das vermutlich anders, auch wenn nur von vereinzelten Wutausbrüchen berichtet wird.

Probleme gab es nach der Beobachtung von Bürgermeister Alexander Wright vor allem auf der West- und Nordanlage und stellenweise innerhalb des Anlagenrings. Der Grünen-Politiker tritt dem Eindruck entgegen, die Stadt habe den Aktionstag als Generalprobe für den Verkehrsversuch genutzt. »Das war keine Veranstaltung der Stadt, sondern eine gemäß Versammlungsgesetz angemeldete Demonstration mit einem verkehrspolitischen Hintergrund, deren Durchführung wir ermöglicht haben«, sagt Wright. Für den geplanten Verkehrsversuch auf dem Anlagenring habe der Samstag wie erwartet »keine großen Erkenntnisse gebracht«, allenfalls die, »dass es nicht reicht, einfach ein paar Straßen und Spuren zu sperren«. Der Verkehrsversuch, dessen Umsetzung am Dienstagabend (17. Mai) im parlamentarischen Verkehrsausschuss vorgestellt werden soll (siehe Info), werde »durchdacht und durchgeplant« sein.

INFO

Stattfinden wird der Verkehrsversuch am Anlagenring voraussichtlich erst in einem Jahr, aber bereits heute Abend will der Magistrat in der Sitzung des Verkehrsausschusses (ab 19 Uhr Sitzungssaal Rathaus) ein Umsetzungskonzept präsentieren.

Zahlreiche Beschwerden von Autofahrern und Händlern zu Verkehrsaktionstag in Gießen

Dem stimmt Heinz-Jörg Ebert, Vorsitzender des BID-Vereins Seltersweg und selbst Innenstadthändler, ausdrücklich zu: »Wir sind dankbar und es ist ein Segen, dass sich die Stadt die damals von uns gewünschte Zeit lässt, den Verkehrsversuch valide vorzubereiten.« Der Samstag habe nämlich gezeigt, zu was ein Schnellschnuss hätte führen können. Ebert: »Trotz bravouröser Leistung der Polizei und des Ordnungsamts haben uns kiloweise Beschwerden ahnungslos nach Gießen fahrender Autofahrer erreicht.« Teilweise sei von 40 Minuten im Stau die Rede gewesen, während die Nutzung der Radspuren insgesamt doch eher »übersichtlich« gewesen sei. Viele Pkw-Lenker seien umgekehrt - ohne Besuch der Innenstadt. Sicherlich müsse man auch nochmal die Kommunikation unter die Lupe nehmen. »Die Dimension des Aktionstages wurde vielleicht nicht ausreichend an den Handel kommuniziert, damit er sich frühzeitig darauf einstellen konnte«, meint Ebert.

Einen starken Einbruch bei der Besucherfrequenz hat es am Samstag trotz der Verkehrsbehinderungen aber offenbar nicht gegeben. Der digitale Zähler des Unternehmens hystreet im Seltersweg zählte gut 30 000 Fußgänger-Bewegungen. Das waren zwar gut 2000 weniger als am Samstag der Vorwoche, aber immer noch die drittbeste Frequenz des bisherigen Jahres.

Verkehrsaktionstag: Massive Verspätungen bei Bussen in Gießen

Stark ausgewirkt hatte sich der Aktionstag dagegen auf den Busverkehr. SWG-Sprecher Ulli Boos spricht von »massiven Verspätungen und Teilausfällen« auf den Stadtbuslinien. Von 11 Uhr und 15 Uhr sei es auf ausnahmslos allen Linien zu massiven Verspätungen gekommen, was dazu geführt habe, dass Linienabschnitte hätten nicht bedient werden können. »Unsere Busse waren sowohl in der Zufahrt zum Anlagenring als auch im Anlagenring selbst durch das starke Verkehrsaufkommen blockiert«, erklärt Boos.

Aus Sicherheitsgründen hatten die SWG darauf verzichtet, die Busse im Begegnungsverkehr - mit den Radfahrern - auf den inneren Spuren fahren zu lassen.

Von einem »Genusserlebnis« spricht Jan Fleischhauer vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC). »Was beim Autofahren eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich zu zweit nebeneinander zu sitzen und sich während der Fahrt zu unterhalten, konnte man nun auch per Fahrrad auf den inneren Spuren des Anlagenrings praktizieren.« Die schönen Abschnitte am Theaterpark und am Park an der Ostanlage sowie die denkmalgeschützten Gebäude habe man ganz anders erlebt, als wenn man auf dem Rad im Autostrom mitschwimme. Menschen seien aufs Rad gelockt worden, die sonst vom starken Verkehr auf dem Anlagenring abgeschreckt würden. Fleischhauer nennt insbesondere Eltern mit Kindern. Diese Vorteile von Fahrradstraßen gegenüber schmalen Radfahrstreifen oder Radwegen seien »sehr gut zu erleben« gewesen.

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