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Absage an »Null-Wachstum« in Gießen

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Von: Burkhard Möller

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Auf Abstand verfolgten am Montagabend rund 100 Zuhörer die Präsentation des Klimaberichts.	FOTO: SCHEPP
Auf Abstand verfolgten am Montagabend rund 100 Zuhörer die Präsentation des Klimaberichts. FOTO: SCHEPP © Burkhard Moeller

Auf dem Weg zu einer klimaneutralen Stadt ist am Montagabend der erste ganz kleine Schritt getan worden. Die politische Mehrheit für die Freigabe eines »Startbudgets« in Höhe von einer halben Million Euro scheint zu stehen. Wie Gießen die selbstgesteckte Zielmarke 2035 erreichen will, bleibt aber unklar.

Eine gewaltig große Zielvorgabe hat sich vor einem Jahr das Gießener Stadtparlament gegeben, als es beschloss, dass die Stadt bis zum Jahr 2035 klimaneutral sein soll. Am Montagabend scheiterte der Magistrat an einer vergleichsweise winzigen Vorgabe. Innerhalb von 45 Minuten sollte bei der Informationsveranstaltung im Atrium des Rathauses der Bericht »Klimaneutrales Gießen« vorgestelllt werden, danach sollte sich eine 75-minütige Diskussion mit den gut 100 Bürgerinnen und Bürgern anschließen, die sich wegen Corona zu der Veranstaltung hatten anmelden müssen. Am Ende blieben kaum 30 Minuten Zeit für Fragen und Argumente aus dem Publikum. In ihrem Schlusswort räumte Gastgeberin und Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz ein »falsches Zeitmanagement« ein.

Zuvor hatte Gerhard Keller von der Initiative Gießen 2035Null zum Ablauf der Versammlung ironisch angemerkt: »Jetzt bleibt ja ausreichend Zeit für die Bürgerbeteiligung.«

Aber nicht nur der Ablauf der Bürgerinformationsveranstaltung sorgte für Kritik, sondern auch die Gewichtung des Klimaberichts. Zu viel Rückblick, zu viel Selbstlob, zu wenig Perspektive, lautete nicht nur das Urteil von Lutz Hiestermann (Lebenswertes Gießen e.V.), der im vergangenen Sommer den Anstoß für den Bürgerantrag Gießen 2035Null gegeben hatte. Auch andere Zuhörer vermissten in dem Bericht und dem, was von den Vortragenden am Montagabend zu hören war, »definitive Maßnahmen« und einen »Aktionsplan«, wie man es schaffen will, dass bis 2035 auf dem Territorium der Stadt keine Treibhausgase mehr produziert werden.

Weniger »akademische Berechnungen« sondern Antworten auf Alltagsfragen wünschte sich zum Beispiel Klaus Haas von der Agenda-Gruppe »Nachhaltige Mobilität«: »Wie bewegen wir Frau Müller aus Biebertal zum Umstieg auf den Bus, wenn der nur einmal die Stunde nach Gießen fährt?« Sein Mitstreiter Volkhard Nobis erinnerte den Magistrat an die Beschlusslage des Stadtparlaments, das der Vorverlegung des Gießener Klimaziels um 15 Jahre vor einem Jahr zugestimmt hatte: »Null ist Null und nicht 60 Prozent.«

Äußerungen aus den Reihen des Magistrats und der Koalitionsfraktionen während der Bürgerversammlung und der sich anschließenden Sitzung des parlamentarischen Hauptausschusses weckten freilich Zweifel, ob die »Null« bis 2035 weiterverfolgt wird und ob die Stadtpolitik den Mut findet, »Einschränkungen« für die Bevölkerung zu beschließen. Denn die wird es nach Überzeugung des Politikwissenschaftlers Prof. Adalbert Evers früher oder später geben.

»Wir müssen realistisch und seriös bleiben«, sagte Grünen-Stadträtin Gerda Weigel-Greilich in der Bürgerversammlung, und SPD-Partei- und Fraktionschef Christopher Nübel erteilte einer Politik des »Null-Wachstums« im Ausschuss eine Absage. Arbeitsplatz- und Einwohnerzuwachs dürften nicht abgewürgt werden. Zuvor hatte Michael Janitzki (Gießener Linke) hinterfragt, ob das andauernde Gießen-Wachstum mit dem Klimaziel vereinbar sei.

»So schnell und einfach geht das nicht«. mahnte Martin Schlicksupp für die CDU mit Blick auf den Verkehr: »Wenn wir uns die Autos aus der Stadt wegdenken, dann bricht der Einzelhandel zusammen.«

Für die Grünen wies Fraktionschef Klaus-Dieter Grothe darauf hin, dass der Bericht durchaus Maßnahmen aufliste, ihm fehlten aber Aussagen, was diese Maßnahmen an CO2-Einsparung bringen. Der Klimabericht sei eine »erweiterte Diskussions- und Verfahrensgrundlage«. Mehr sei in »dieser politischen Konstellation« nicht drin gewesen.

»Erhellend und ernüchternd« nannte FDP-Fraktionsvorsitzender Klaus Dieter Greilich den Klimabericht und forderte fürs kommende Jahr einen »Maßnahmenkatalog« und eine genauere Kostenschätzung ein. Die Corona-Krise habe gezeigt, dass ein Shutdown angesichts der ökonomischen Schäden nicht die Lösung für das Klimaproblem sein könne.

Mit den Formulierungen »ernüchternd« und »erhellend« dürfte der Liberale unter anderem die im Bericht vorgenommene volkswirtschaftliche Bilanzierung der Kosten meinen, die mit der Erreichung der Klimaneutralität bis 2035 verbunden wären. Danach müssten bis dahin 640 000 Tonnen CO2 reduziert werden, was zu Kosten in Höhe von 5.35 Milliarden Euro führen würde. Umgerechnet wären das pro Jahr und Einwohner knapp 4000 Euro. Langfristig noch teurer käme es freilich, nichts oder nicht genug gegen den Klimawandel zu tun.

Um lokal erste Antworten auf die »zentrale Menschheitsfrage« (OB Grabe-Bolz) geben zu können, soll der Magistrat in den Haushalt 2021 ein »Startbudget« in Höhe von 500 000 Euro einstellen. Nur die AfD stimmte im Ausschuss gegen diese Bewilligung. Angesichts der Steuerausfälle durch die Corona-Krise sei die Ausgabe nicht verantwortbar, argumentierte der Stadtverordnete Thomas Biemer.

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