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75 Jahre Gießener Allgemeine Zeitung
Der Flüchtlingsstrom: Wie vor 75 Jahren die ersten Sudetendeutschen in Gießen angekommen sind
- vonUrsula Sommerladschließen
Am 11. Februar 1946 trifft ein Transport mit den ersten Sudetendeutschen am Gießener Bahnhof ein. Viele von ihnen finden im Landkreis eine neues Zuhause. Aber die ersten Jahre sind hart.
Sechs Seiten umfasst die Ausgabe der Gießener Freien Presse vom 12. Februar 1946. Lokale Nachrichten werden auf Seite 3 vermeldet: Die Lahn überflutet Straßen und Plätze, die Baugemeinschaft Gießen sucht händeringend Dachpappe, das Versorgungsamt bietet Sprechtage für Kriegsbeschädigte an. Darüber der Aufmacher: »Der Flüchtlingsstrom erreicht Gießen«, titelt der Reporter. Tags zuvor hat er am Bahnhof die Ankunft der ersten 1200 Vertriebenen aus dem Sudetenland miterlebt. Das ist der Anfang. Allein 1946 werden rund 400 000 heimatlose Menschen in Hessen eintreffen.
6,6 Millionen Menschen werden aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn ausgewiesen
Das Schicksal der Deutschen im Osten war im Potsdamer Abkommen besiegelt worden. Der darauf basierende Ausweisungsplan des Alliierten Kontrollrats vom November 1945 sah die Ausweisung von über 6,6 Millionen Menschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn vor. In den süddeutschen Ländern und Hessen fanden vor allem Sudetendeutsche Aufnahme. Von dort, aus dem Raum Reichenberg und Mährisch-Trübau, kamen auch die Menschen, die mit dem ersten Transport am 11. Februar Gießen erreichten.
Die Behörden mussten improvisieren. »Die Verkehrsbetriebe der Stadt Gießen hatten alle nur irgendwie erreichbaren Omnibusse, LKW und Lieferwagen mobilisiert, um die Flüchtlinge samt ihrem Gepäck gleich zu übernehmen und zu ihren Übernachtungsräumen zu bringen«, schreibt die Gießener Freie Presse. Nach einer ärztlichen Untersuchung am folgenden Tage werden 600 Menschen auf den Landkreis Gießen verteilt, die anderen sollen in der Wetterau ein neues Zuhause finden. Der Reporter der Freien Presse ist optimistisch: »Nach dem teilweise recht langen Aufenthalt in Lagern in der Tschechoslowakei wird dies der ersehnte Zustand einer Wiedererrichtung friedvoller Heimstätten sein.«
Gerade in den Anfangsjahren gibt es Konflikte zwischen Vertriebenen und Einheimischen
Doch in den Städten und Dörfern rund um Gießen hat man auf die Neuankömmlinge nicht gerade gewartet. »Es dauerte, bis wir heimisch wurden«, resümierte vor fünf Jahren Roland Heger aus Staufenberg im Gespräch mit dieser Zeitung. Er war als kleines Kind mit seiner Familie aus Porstendorf vertrieben worden. »Wir wurden nicht gerade mit offenen Armen empfangen.«
Ein Blick ins Zeitungsarchiv untermauert solche Erinnerungen. Immer wieder wird von Konflikten berichtet. Im Südosten von Gießen verweigert ein ganzes Dorf die Aufnahme von Flüchtlingen. Der Kreislandwirt, der mit schlechtem Beispiel vorangegangen ist, wird von einem amerikanischen Militärgericht zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Auch ein Pfarrer in der Rabenau, der sich weigert, ein älteres Ehepaar zu beherbergen, muss seine Lektion lernen: Er bekommt 14 Flüchtlinge eingewiesen. Das Provisorium der Einquartierung sollte für einige Jahre von Dauer sein. Bis 1949 wurden in ganz Hessen lediglich 1500 Neubauten für Flüchtlinge fertiggestellt. Die Wohnungsnot bekam die deutsche Gesellschaft erst nach der Währungsreform langsam in den Griff.