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»600 Hilferufe in einem Jahr sind zu viel«

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Von: Marc Schäfer

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Der gelernte Physiotherapeut Marcel Iwanyk ist seit 2018 im Betriebsrat des Universitätsklinikums engagiert. © Oliver Schepp

Marcel Iwanyk ist Betriebsratsvorsitzender am Universitätsklinikum in Gießen. Er blickt auf ein außerordentlich schwieriges Jahr zurück. Im Interview schildert er, die Situation am UKGM aus Sicht des Gremiums. »Wir laufen von einem Brandherd zum anderen«, sagt er.

Was ist in Erinnerung geblieben von 2022?

Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist diese Unsicherheit durch die Streitigkeiten mit dem Land Hessen über ein neues Zukunftspapier. Ich denke, das ging allen Menschen so, die am UKGM arbeiten. Das hat für große Unruhe gesorgt. Viele Mitarbeiter haben darüber nachgedacht, ob sie am UKGM bleiben oder gehen sollen. Viele haben sich entschieden zu gehen.

Die Unsicherheit hat bis in den Dezember gedauert, ehe das Land einen Durchbruch in den Verhandlungen vermeldet hat.

Mit viel Druck der Gewerkschaften und mit vielen Streiktagen der Kollegen wurden das Land und Asklepios/Rhön dazu gedrängt, eine Einigung zu finden. Doch ob es am Ende auch funktioniert? Ich bin gespannt.

Welche Themen haben sonst noch die Arbeit des Betriebsrats dominiert?

Erschöpfung. Egal, wo man hinkommt, die Leute machen ihren Job immer noch gerne, aber ihre Erschöpfung ist riesengroß. Die Ausfallquote ist riesengroß. Als Betriebsrat laufen wir eigentlich von einem Brandherd zum anderen.

Können Sie Beispiele nennen, wo es brennt?

Eigentlich brennt es überall im Haus. Zum Beispiel ist die Materialwirtschaft schon jahrelang ein Brandherd. Dort geht es um Wareneingang, Warenbestellungen, Rechnungswesen. Ohne das funktioniert ein Krankenhaus nicht. Aber es wird dort einfach nicht besser. Ganz im Gegenteil. In der Pandemie wurde es schwierig, Material zu bekommen. Die Belastung ist also noch größer geworden. Die Mitarbeiter haben ständig um Hilfe geschrien, aber haben sie nie bekommen. Es ist doch bezeichnend, wenn über die Hälfte der Leute krank ist. Die Zentralsterilisation ist auch ein endloses Thema. Das war mal ein Musterbeispiel. Andere Kliniken sind nach Gießen gekommen und haben sich das angeschaut. Zum Teil haben wir in Gießen für andere Kliniken mitgearbeitet. Jetzt laufen wir der eigenen Arbeit nur noch hinterher. Die Arbeit ist körperlich hoch belastend mit Schichtdienst. Und auch hier schlägt der Arbeitskräftemangel zu.

Hat das UKGM was neues Personal angeht ein Imageproblem?

Die Streitigkeiten mit dem Land und die unsichere Zukunft sind jedenfalls alles andere als produktiv gewesen. Ich kann Menschen verstehen, die sagen, da fahr ich lieber ein paar Kilometer mehr an die Arbeit.

Haben Sie konkrete Zahlen darüber, wie viele Mitarbeiter das UKGM aufgrund der unklaren Zukunft verlassen haben?

Leider nicht. Aber wenn man durch die einzelnen Bereiche geht, hört man eigentlich überall davon. In kaum einem Bereich haben wir die Stellen besetzt, die wir dort bräuchten, um gut zu arbeiten.

Wie kann man dieses Problem lösen?

Personal kriegen wir nicht so einfach, das haben jetzt mittlerweile alle gemerkt. Eigentlich müssten wir daher unsere Leistungsfähigkeit an die Stellenzahl anpassen. Das wäre aber der Todesstoß für die medizinische Versorgung in Mittelhessen. Am UKGM heißt es immer, wir sind Maximalversorger, wir müssen alle Patienten aufnehmen. Der Wunsch des Betriebsrats wäre aber, dass man anerkennen muss, wenn 30 Prozent Mitarbeiter fehlen, dass man dann auch nur 30 Prozent weniger Leistung bringen kann. Aber wie gesagt: Das funktioniert an einem Uniklinikum nicht. Ich würde mir aber wünschen, dass mancher Patient zweimal nachdenkt, wann er in die Notaufnahme geht und wann nicht. Die Belastung dort ist mittlerweile auch ein großes Problem geworden. Am Ende ist der Frust groß, wenn man stundenlang warten muss, weil immer wieder größere Notfälle ins Haus kommen. Das liegt natürlich auch daran, dass Praxen und Ärztehäuser auch so langsam wegbröckeln.

Das ist ein verständlicher Wunsch, aber vielleicht bleiben dann gerade die Patienten fern, die eigentlich besser hätten kommen sollen?

Natürlich, es ist eine absolut schwierige Entscheidung. Ich musste letztes Jahr auch mit meinem Sohn in die Notaufnahme. Man sollte bloß hin und wieder noch mal überlegen, ob es eine Option gibt.

Was war der traurigste Moment für Sie in diesem Jahr?

Aus Sicht des Betriebsratsvorsitzenden, der ich nunmal bin, ist alles schlimm. Ein Kollege hat einmal gesagt. Wir haben vorletztes Jahr eine rote Linie überschritten mit diesem Haus und seitdem geht’s bergab. So ist es! Es ist schon lange nicht mehr die Frage, ob wir das UKGM als Hochleistungsstandort erhalten können, sondern ob wir die Grundversorgung sicherstellen können. Traurige Momente sind, wenn Kolleginnen und Kollegen unter Tränen berichten, unter welchen Bedingungen sie arbeiten mussten. Und traurig ist, dass man an vielen Stellen keine gute Lösung finden kann.

Das Land hat von einem Durchbruch gesprochen. Der Ärztliche Geschäftsführer Werner Seeger von Erleichterung. Welches Wort fällt Ihnen ein, wenn Sie an das neue Zukunftspapier denken?

Noch fehlen die Unterschriften. Aber Erleichterung ist es ganz sicher nicht. Mir fehlt jede Fantasie, in welcher Weise unsere Mitarbeiter Erleichterung verspüren sollten. Das Einzige, was sein wird, ist, dass sie weniger Mehrbelastung spüren werden, da sie das Geld, das jetzt vom Land kommt, nicht noch obendrauf erwirtschaften müssen. Trotzdem bleibt ein Teil, der vom UKGM kommt. Und das erarbeiten unsere Mitarbeiter. Einen Moment der Hoffnung hatte ich jetzt vor Kurzem, als die Gewerkschaft aufgerufen hat, einen Entlastungstarifvertrag auf den Weg zu bringen bei uns.

Das war ein besonderer Moment?

Ja. Eigentlich ist es ja traurig, dass Menschen im Gesundheitswesen darum kämpfen müssen, unter normalen Bedingungen arbeiten zu können. Aber davon abgesehen hat mich der Zusammenhalt der Kollegen und Kolleginnen durch alle Ebenen des Hauses positiv überrascht. Die wollen diesen Tarifvertrag erstreiten und haben ein Funkeln in den Augen. Das hatten wir sehr lange nicht mehr. Es hat mich wirklich sehr gefreut.

Wir erklären Sie sich die große Zustimmung und Bereitschaft für diesen Tarifkampf?

Zum einen haben die Mitarbeiter an anderen Häusern gesehen, dass es möglich ist. Zum anderen haben sie einfach die Nase voll. Sie können nicht mehr. Es ist vielleicht jetzt ihr letztes großes Aufbäumen.

Die Gewerkschaft hat ein Ultimatum von 100 Tagen gesetzt. Der Countdown läuft.

Die Arbeitgeberseite hat zugesagt, in die Tarifverhandlungen einzutreten. Spannend wird, was sich der Arbeitgeber als Entlastungstarifvertrag vorstellt und was sich die Kollegen als Entlastung wünschen. Ich denke, da liegen wir ganz weit auseinander. Auch weil es um mehr geht, als um die Pflege. Gerade in den Bereichen, die nicht so auf dem Schirm sind wie Service, Patientenbegleitdienst und so weiter wird es knallen.

Was würden Sie sich wünschen, was am Ende herauskommen muss?

Mindestens das, was in Frankfurt im Vertrag steht. Da geht es zum Beispiel darum, dass Mitarbeiter Freizeit bekommen, wenn in ihren Bereich bis zu einen Stichtag nicht genügend Personal aufgebaut worden ist. Mir ist wichtig, dass Kollegen aus allen Bereichen gefragt werden, wie sie sich Entlastung vorstellen. Ich hoffe nicht, dass wir wie zuletzt an anderen Häusern 77 Tage lang streiken müssen.

Wäre das überhaupt zu verantworten?

Das Argument des Arbeitgebers bei Streiks ist ja immer: Wenn ihr nicht arbeitet, sterben Menschen. Das ist immer das erste, das den Kollegen an den Kopf geworfen wird. Aber den Streik verhindern kann nur der Arbeitgeber. Das Krankenhaus funktioniert in vielen Bereichen eigentlich nur noch, weil die Kollegen sich nicht gegenseitig im Stich lassen. Ich nenne das immer eine Zuneigungsgemeinschaft. Aber wenn man als Krankenschwester zwei Wochen Urlaub hat und dann jeden Tag das Telefon klingelt, ob man nicht doch einspringen kann, dann hat man eben keine zwei Wochen Urlaub gehabt. Man könnte natürlich sagen, ich geh nicht ran, aber wenn das Telefon klingelt, machen sich die Leute schon Gedanken, was auf Station schon wieder los ist. Junge Kolleginnen verlassen die Intensivstationen mittlerweile, weil sie Angst haben vor ihrem Dienst. Denn am Ende hängt ein menschliches Schicksal dran. Und die Frage: Habe ich den Patienten gut versorgt, habe ich ihm die richtigen Tabletten gegeben, habe ich oft genug nach ihm geschaut? Unsere Mitarbeiter sind super bemüht, aber die meisten betreiben Raubbau am eigenen Körper.

Das klingt frustrierend.

Es ist ein Teufelskreis. Die Mitarbeiter mahnen an, schreiben Überlastungsanzeigen. Wir streiten uns mit dem Arbeitgeber, wir finden Kompromisslösungen und hoffen, dass es besser wird, und am Ende ist es meistens schlechter.

Wie viele Überlastungsanzeigen sind bei Ihnen in 2022 eingegangen?

Mehr als 600. Man muss aber auch sagen, dass viele aus Frustration keine mehr schreiben. Oft sind es auch Sammel-Überlastungsanzeigen, mit denen nicht der eine Tag sondern gleich die ganze Woche angezeigt werden. Normalerweise müssen die Überlastungsanzeigen vor Schichtbeginn geschrieben werden, wenn man merkt, dass man in eine Situation kommt, die überlastend ist.

Wie schätzen Sie die Zahl von 600 Anzeigen ein?

600 sind zu viel. Das sind an jedem Tag fast zwei Anzeigen. Eine Überlastungsanzeige ist ja ein Hilferuf. 600 Hilferufe in einem Jahr. Das ist eine Hausnummer. Und wenn man sich dann noch überlegt, dass an jedem überlasteten Mitarbeiter eine Vielzahl Patienten hängen ... Dann ist das noch mal ein ganz anderes Thema. Es geht immer darum, dass zu wenig Leute da sind für zu viele Patienten. Die Dunkelziffer ist meiner Meinung nach außerdem deutlich höher.

Wissen Sie von Kliniken im Land, wo sich die Arbeitssituation verbessert hat?

Es gibt Häuser, die einen Entlastungstarifvertrag haben und mittlerweile bei der Personalsuche auch damit werben. Ich glaube aber, wir stehen in den nächsten zwei, drei Jahren eher vor dem Punkt, dass es noch mal schlechter wird. Es gibt bisher keine gute Lösung, dem Personalmangel etwas entgegenzusetzen. Aus dem Ausland Fachkräfte einzustellen, ist auch nur eine Tröpfchen-Lösung und sorgt zunächst für Mehrarbeit. Das Problem ist auch, dass viele junge Leuten, die bei uns anfangen, nach kürzester Zeit ihre Vollzeitstelle wieder kürzen, weil sie die Belastung nicht aushalten können. Manche verlassen das Gesundheitswesen dann auch endgültig.

Was gibt Ihnen Mut, Ihren Job auch in 2023 wieder machen zu wollen?

Am Ende arbeite ich für die Mitarbeiter, die zu uns kommen und Hilfe benötigen. Das ist oft ein mühsamer Weg. Manche Sachen brauchen Monate, manche gehen mal mit einem schnellen Anruf. In den meisten Fällen gelingt es uns, den Kollegen irgendwie zu helfen. Als ich noch als Physiotherapeut gearbeitet habe, habe ich mir mit meinen Kollegen oft die Köpfe heißgeredet und mich geärgert. Das hat aber nichts geholfen. Heute kann ich die Probleme wenigstens da adressieren, wo sie hingehören.

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