Über den eigenen Schatten springen

Wettenberg (m). Wieviel Rückzugsmöglichkeiten braucht das Tier? Wie viel Raum darf der Mensch für Naherholung beanspruchen? Das Thema bewegt: Rund 50 Interessierte wanderten am Samstag über fünf Kilometer das Wißmarer Erlental hoch bis zur »Hasenhölle«. Dort soll auf einer Fläche von 100 Hektar die größten von insgesamt neun Wild-Ruhezonen ausgewiesen werden.
Dies hat die Rotwildhegegemeinschaft »Krofdorfer Forst« vorgeschlagen. Eingeladen zu dieser Exkursion hatte die CDU-Fraktion Wettenberg. Deren Vorsitzender Dr. Gerhard Noeske erläutert die Intention: Lösungsansätze entwickeln, um Zielkonflikte im Lebensraum Wald zu minimieren. Mit dabei Fachleute, die das Thema »Wald, Wild und Mensch« mit all seinen Facetten kennen.
Geballtes Wissen
Geballtes Wissen findet sich im 174 Seiten starken »Lebensraumgutachten und Bewirtschaftungskonzept«, das die Rotwildhegegemeinschaft »Krofdorfer Forst« nach mehrjähriger Arbeit vorgelegt hat. Am Werk beteiligt waren unter anderem Forstdirektor i.R., Klaus Schwarz, der 17 Jahre lang Vorsitzender der Hegegemeinschaft war sowie der kürzlich verstorbene langjährige Revierleiter Hans-Joachim Leicht. Begutachtet werden darin rund 16 000 Hektar Fläche, davon rund die Hälfte bewaldet zwischen dem Gießener Lahntal und dem Lahn-Dill-Bergland.
Teilnehmer der Waldbegehung waren Vertreter aus den Jagdgenossenschaften, Jagdpächter, Waldbesitzer, Vertreter naturnaher Verbände und der Forstverwaltung.
Um aber unterschiedliche Interessen zu harmonisieren, bedarf es des gegenseitigen Verständnisses und der Toleranz. Helge Hessler, einer von drei Jagdpächtern im Revier Wißmar, fand durchaus moderate Töne. Man befürworte Ruhezonen. Aber solche Gebiete in ihrer Funktion zu akzeptieren müsse für alle gelten - somit auch für die sporttreibenden und erholungssuchenden Menschen.
Mit Restriktionen, so die mehrheitliche Auffassung, komme man nicht weiter. Es gelte, die Menschen mitzunehmen, um Verständnis zu erzielen, ohne den Freizeitwert des Waldes in Frage zu stellen.
Dass es Handlungsbedarf gibt, das zeigt unter anderem der seit Jahren bekannte nachweisliche Verlust an genetischer Vielfalt beim Rotwild im Revier: Die isoliert lebende kleine Population im Krofdorfer Forst leidet unter Inzucht. Zu diesem Thema informierte Prof. Gerald Reiner vom Arbeitskreis Wildbiologie an der Universität Gießen. Auch er plädiert für Ruhezonen und Äsungsflächen, um die Gesundheit des Rotwildes zu erhalten.
Der Rotwildsachkundige und ehemalige Leiter des Forstamts Wettenberg, Forstdirektor Harald Voll, wies darauf hin, dass fehlende Wanderkorridore für Fernwechsel des Wildes mit ursächlich sind. Die lebhaften Diskussionen führten zu durchaus erkennbaren Ansätzen, an einem Strang ziehen zu wollen, vor allem zu müssen. Ralf Jäkel, Leiter des Forstamtes Wettenberg, sein Stellvertreter Heinz-Jürgen Schmoll und Revierförster Yannik Necker warben um konstruktiven und fairen Umgang miteinander. Nur so komme man in der Sache voran. Der Vorsitzende der Jagdgenossenschaft Wißmar, Günter Hofmann, appellierte, alle Verantwortlichen seien gut beraten, über ihren eigenen Schatten zu springen.
Das Lebensraumgutachten biete eine hervorragende Handlungsgrundlage, sagt auch Gerhard Noeske. Ihm war es deshalb wichtig festzulegen, nach vielen Jahren immerwährend gleicher Diskussion nun kommunalpolitisch ein Signal zu setzen.
Vereinbarung
Auf der Grundlage der dreistündigen Veranstaltung soll, so die Idee, Jagdgenossenschaftsvorsitzender Hofmann eine Vereinbarung zu Papier bringen, die das Beziehungsgeflecht zwischen Waldbesitzern, Hessen-Forst, Rotwildhegegemeinschaft und Jagdpächtern unter besonderer Berücksichtigung der Frage der »Wildruhezonen« transparent macht und rechtliche Aspekte berücksichtigt. FOTO: M